Selten war "Geschichte" so hautnah und eindrucksvoll zu erleben wie während des jüngsten Piaristner Pan Philosophicums

Dem Gedenkjahr 2018 wollten die Altpiaristner mit einem individuellen Zugang gerecht werden. Gibt es doch einen Absolventen, der nicht nur acht Jahrzehnte der 100jährigen Republik miterlebt, sondern sie auch aktiv mitgestaltet hat.
Der Einladung zum Diskussionsabend waren bedauerlicherweise keine Oberstufen-Schüler/-innen, aber erfreulicherweise zahlreiche Altpiaristner/-innen aus Nah und Fern gefolgt. Und sogar ein interessierter Alt-Journalist hatte sich in der Alten Bibliothek eingefunden. Er war so freundlich, seine Eindrücke des Abends nachstehend festzuhalten.

„Wenn Sie sich in einem Land befinden, in dem eine Partei regiert, während eine andere die Opposition stellt, dann sind sie in einer Demokratie.
Wenn Sie in einem Land sind, in dem eine Partei regiert und keine die Opposition macht, weil sie verboten ist, dann ist das eine Diktatur.
Wenn Sie sich in einem Land befinden, wo zwei Parteien regieren, die sich zugleich die Opposition machen - dann sind sie in Österreich.“

Und wenn ein ausgewiesener österreichischer Groß-Koalitionär dieses Merz-Qualtinger-Zitat in seine fundierten Betrachtungen über Österreichs politische Geschichte seit der Ersten Republik einfließen lässt – dann ist das Heinrich Neisser, in seinem unnachahmlichen Stil.
Der Alt-Piaristner Neisser hat Österreichs Politik ab Ende der 1960er-Jahre als Staatsekretär unter Josef Klaus ebenso wie später als Minister unter Franz Vranitzky, als langjähriger Abgeordneter zum Nationalrat wie als Klubobmann der ÖVP, und zuletzt als Zweiter Nationalratspräsident mitgeprägt . Am 10. Oktober stellte er sich im Rahmen des Piaristner Pan Philosophicums „100 Jahre Republik“ mit einem Referat und einer anschließender Diskussion zur Verfügung – in der Bibliothek, an die er sich als Ort seiner Matura-Prüfungen (1954) noch erinnerte.

 

„Die Erste Republik ist gescheitert!“, war sein klares erstes Resumee zum Thema. „Alle redeten von Demokratie und Republik – nur verstand jeder was anderes darunter.“ Auch deshalb habe Österreich im 20. Jahrhundert  in Wahrheit drei  Kriege erlebt – die beiden Weltkriege und dazwischen den Bürgerkrieg von 1934, der innenpolitsch noch lange nachgewirkt habe. Der Ständestaat des Engelbert Dollfuß, gestützt auch von der Kirche, habe viele fasziniert. Genauso verblüffend aber, so Neisser, die kaum geahnte Unterwanderung schon dieses Staates mit illegalen Nationalsozialisten: „Nach dem Anschluss 1938 waren sofort ausreichend illegale Parteigenossen zur Hand, als es um Neubesetzungen an den ‚gesäuberten‘ Universitäten ging.“

Aber: „Die wahre Erfolgsstory ist die Zweite Republik“, sagt Heinrich Neisser. Als Gründe sieht er einerseits die vielzitierte „Gemeinsamkeit der Lagerstraße“, also das Erlebnis der Nazi-KZs für führende Politiker aller Couleurs, andererseits aber auch die in manchem „heilsame“ Besatzungszeit mit ihren Beschränkungen für eine wirklich eigenständige österreichische Politik. Die für den Wiederaufbau unverzichtbare Große Koalition sei im Lauf der Jahre allerdings zu einem „Machtkartell“ verkommen, urteilt Neisser. Für ihn hat spätestens mit dem Abgang von SPÖ-Bundeskanzler Vranitzky der Abgesang auf die Große Koalition als gestaltende Kraft der Politik begonnen – siehe einleitendes Zitat.

Als österreichische Besonderheit sieht Neisser die hierzulande kaum entwickelte direkte Demokratie: Die große Rolle der Parteien, der Interessensvertretungen, der Sozialpartnerschaft sei lange Zeit Symptom gewesen für unsere Bevorzugung des „repräsentativen“ Systems. Das Instrument des Voksbegehrens etwa sei seit 1920 in der Verfassung vorgesehen – aber erst 44 Jahre später fand das erste Volksbegehren (zur ORF-Reform) statt.
Für eine „direkte Demokratie nach dem Muster der Schweiz“ fehle es Österreich wohl immer noch an der grundlegenden Demokratie-Kultur, „sich in die eigenen Dinge einzumischen“, zitiert Neisser den Schweizer Autor Friedrich Dürrenmatt.

Von Österreichs EU-Präsidentschaft schließlich erwartet Neisser nicht allzu viel. Der Ratsvorsitz bedeute schon seit längerem im Wesentlichen nur mehr die Organisation von Treffen. Die große Frage „Brexit“ sei von uns nicht zu managen, und die Funktion als „ehrlicher Makler“ zwischen den Mitgliedsländern habe die jetzige Bundesregierung mit so manchen umstrittenen Positionen schon verspielt, meint Heinrich Neisser pointiert am Schluss seiner „tour d’horizon“.

Langanhaltender Applaus der Anwesenden und angeregte Gespräche bei variationsreichem Fingerfood und Piaristen-Wein beschließen den Abend.   Dr. Werner Löw

Heinrich Neisser im Original-Ton ...

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