Memoiren laufen meist nach einem einheitlichen Schema ab: Im Mittelpunkt steht das „Ich“ des Autors.

Es wäre nicht Hans Haumer, wenn es ihm nicht gelänge, seinen Erinnerungen eine besondere Form zu geben. Die Rahmenhandlung erklärt schon sehr viel: er vermittelt seiner „Enkelin“, der er das Ganze erzählt, nicht das „Memoiren-Ich“ sondern die Erfahrung eines 80-jährigen Lebens: persönlich, beruflich aber auch ganz allgemein die globale Sicht auf unseren Planeten, geformt aus den Eindrücken einer reichen Lebenserfahrung.

Besonders beeindruckend ist Haumers Lobrede auf die EU. Er sieht natürlich die Fehler und Schwächen dieses Konstrukts, aber er weiß, wohin der Weg gehen muss: Und wenn man bedenkt, dass praktisch alle unter 40-jährigen EU-Bürger nicht einmal den Eisernen Vorhang bewusst miterlebt haben, kann man sich als Altersgenosse der Bedeutung seiner Aussagen nicht entziehen – und für die jüngeren wäre es geradezu Pflichtlektüre:

Den Menschen, die Europa nicht wie ich als eine politische Auferstehung persönlich erlebt haben, fällt es sicher schwerer, die Probleme der EU von heute in einem milden Licht zu sehen. Ein so gewaltiger Schritt wie die Einigung Europas ist selten in der Geschichte so verhältnismäßig progressiv und reibungsarm - und friedlich - passiert. Von der Montanunion und der gemeinsamen Kontrolle über Kohle und Stahldurch die sechs Gründerstaaten bis zur Suprematie des europäischen Rechts, zum Euro und der Osterweiterung nach dem Fall der Berliner Mauer war es ein weiter Weg. Diese unglaubliche Wanderung konnte gar nicht ohne Rückschläge, Wachstumsschmerzen und Ermüdung abgehen. Und sie ist noch nicht zu Ende.“

Ein atypischer Banker? Ja, weil er als solcher Akzente gesetzt hat, die erst nach seiner aktiven Zeit Früchte getragen haben, aber zunächst von „typischen Bankern“ hintertrieben bzw. verhindert wurden. Erst Andreas Treichl ist es gelungen, auf den von Haumer gesetzten Fundamenten erfolgreich weiter zu bauen. Als langjähriger Weggefährte in der Ersten Österreichischen, nunmehr Erste Bank – wenn auch auf niedrigerer Managementebene – erlaube ich mir dieses persönliche Urteil! Nun, abgesehen von der beruflichen Entwicklung und Fachausbildung ist Hans Haumer eben in erster Linie ein Humanist und ein musischer Mensch und erst in zweiter Linie Repräsentant seines beruflichen Werdegangs (übrigens interessanterweise auch eine Charakteristik, die auf Andreas Treichl zutrifft). Und damit schließt sich der Kreis:

Wir leben in einer Zeit, die am liebsten hätte, wenn uns die Schule bereits als „perfekten Klon“ unseres künftigen Berufslebens entließe. Die Folge ist ein stetiges Zurückdrängen der Allgemeinbildung zugunsten einer „berufsbildenden“ Schule, indirekt verbunden mit einer schleichenden Abwertung des Modells „Allgemein bildende Schule“. Und unsere Zeit mit ihren technischen Entwicklungen leistet hier Vorschub, indem man suggeriert, Allgemeinbildung braucht man nicht zu lernen, man kann ihre Inhalte jederzeit „ergoogeln“. Aber gerade das fördert die Engstirnigkeit und scheuklappenbehaftete Sicht der meisten Repräsentanten ihrer Berufe. Nur wer imstande ist, sich eine kulturelle Bildungsebene aufzubauen, die ihm den Blick hinter die Kulissen des Seins ermöglicht, wird letztlich im Berufsleben wirklich erfolgreich sein können: Bildung schafft uns die Möglichkeit, über den Tellerrand hinaus zu sehen und das große Ganze im Auge zu behalten, mit einem Wort: Ausbildung ist wichtig, aber ohne Bildung ist Ausbildung nichts. Das hat Hans Haumer erkannt und daher auch seine tiefe Dankbarkeit gegenüber seiner ehemaligen Bildungsstätte Piaristengymnasium:

Wieder erinnere ich mich an die Lehrer, welche die Fundamente unserer Bildung legten: Ganz zuerst ein Deutschprofessor, der sowohl die klassische als auch den letzten Stand der neuesten Literatur vor uns ausbreitete. Wer hat schon kurz nach der Veröffentlichung ‚Die Pest‘ von Albert Camus im Deutschunterricht lesen können? Oder dramatische Stücke zeitgenössischer Autoren wie ‚Das heilige Experiment‘ Fritz Hochwälders in der Klasse diskutieren dürfen, das eben am Burgtheater aufgeführt wurde? Die literarische Bildung seiner Klasse hat Professor Vogelsang kenntnisreich geformt …………Ich will mit dieser Erinnerung an meine Lehrer sagen, wie dankbar man einer guten Schule und guten Lehrern ein Leben lang sein muss. Fast alle verdienten das über die Maßen. Der Griechischlehrer, der viel über griechische Mythologie erzählte und mit dem starken Spruch über Achilles beeindruckte: „Seht ihr, auch Helden dürfen weinen!" Der gütige Klassenvorstand, der uns Mathematik und Physik so schonend wie möglich und daher auch ohne schädliche Nebenwirkung nahebrachte. Die Verbesserung der Schularbeiten zelebrierte Professor Resch an der Tafel mit amüsant ausgeschmückten Beispielen, wie viele Umwege man hätte vermeiden können, um eine richtige Lösung zu finden: Es wäre doch auch möglich gewesen, dieses Beispiel mit fünf Zeilen und in drei Minuten zu lösen, nicht wahr? So zum Beispiel ... Unser Professor Strondl, damals hieß sein Fach noch Naturgeschichte, blieb mir immer ein wenig fremd, aber er überraschte mich bei einem späteren Treffen mit einer treffsicheren Bemerkung: „Was, du studierst Jus? Ich dachte, es würde Philosophie sein!“

Insgesamt eine Lektüre, die allen zu empfehlen ist, die über den Tellerrand ihres unmittelbaren Daseins und beruflichen Wegs hinausblicken und -denken wollen.
Günter Braun / November 2020


Hans Haumer, Jenes hügelige Sein, ISBN 978-3-218-01234-8

Altkanzler im Dialog mit Altpiarist:
Einen interessanten Diskurs über die Inhalte des Buches führte Hans Haumer mit dem früheren Bundeskanzler Wolfgang Schüssel.